Qualitätsmanagement ist das Gärtnern des ohnehin Wachsenden
Leipzig, 24.11.2025
„Qualitätsmanagement ist das Gärtnern des ohnehin Wachsenden“ – dieses von Isabell Weber vorgetragene Zitat aus Session 5 unseres CDS-Netzwerk-Symposiums trifft den Kern: Eigenherstellungen von Medizinprodukten an Universitätskliniken sind längst Realität.
Software für Entscheidungsunterstützung, Kombinationen von Medizin- und Nicht-Medizinprodukten, Hardware-Eigenentwicklungen – vieles davon lief jahrelang „unter dem Radar“. Doch mit steigender regulatorischer Komplexität und wachsenden Haftungsrisiken wird deutlich: Ohne strukturiertes Qualitätsmanagement gefährdet man nicht nur die Patientensicherheit, sondern auch die Innovationsfähigkeit der eigenen Institution.
In Session 5 teilten Dr. Urs Eisenmann, Christopf Kämpf und Isabell Weber ihre Erfahrungen beim Aufbau von Qualitätsmanagementsystemen an drei unterschiedlichen Einrichtungen. Von schlanken ISO-13485-Zertifizierungen über pragmatische Hybrid-Ansätze bis hin zu klinikweiten QMS-Strukturen – die Diskussion zeigte: Der Weg ist steinig, aber lohnend. Denn gut implementiertes QM bremst Innovation nicht aus, sondern macht sie erst nachhaltig möglich.
Die Erkenntnisse im Detail
Zertifiziertes QMS für Eigenherstellungen am Institut für Medizinische Informatik am Universitätsklinikum Heidelberg
Dr. Urs Eisenmann | Gruppenleiter & QM-Beauftragter | Institut für Medizinische Informatik, Universitätsklinikum Heidelberg
- Warum ein zertifiziertes QMS aufgebaut wurde: Das Institut für Medizinische Informatik Heidelberg entwickelt Inhouse-Medizinprodukte und nutzt dafür die Möglichkeit der Eigenherstellung nach Artikel 5 der MDR. Ein zertifiziertes QMS nach ISO 13485 war nicht zwingend erforderlich, wurde aber zur Absicherung, Sichtbarkeit und Zukunftsfähigkeit aufgebaut – etwa um bei Bedarf schnell den Herstellerstatus erlangen zu können.
- Herausforderungen und Lösungsstrategien beim Aufbau: Steile Lernkurve, viele Sackgassen – daher der Start mit einfachen Vorgabedokumenten. Stark wechselndes Personal erforderte hohen Bedarf an Tool-Automatisierung, Templates und klaren Schritt-für-Schritt-Anleitungen. Die Nutzung eines modernen Toolstacks (Jira, GitLab) zur Rückverfolgbarkeit entlastete das Team erheblich. Externe Beratung mit Vorerfahrungen zu „Software als Medizinprodukt“ erwies sich als entscheidend.
- Nutzen des QMS – auch über Medizinprodukte hinaus: Strukturierte Prozesse verbessern Onboarding, Change-Management und Arbeitsorganisation im gesamten Institut. Entwickler schätzen klare Abläufe, weniger Chaos und die Vermeidung von Änderungen „auf Zuruf“. Das QMS führt zu höherem Qualitätsbewusstsein auch in Forschungsprojekten und erleichtert langfristig die Entwicklung.
„Wir sind mit 25-seitigen Dokumenten gestartet – und haben schnell gelernt, dass man bei einem QMS besser einfach beginnt. Komplex wird es von allein.“
– Dr. Urs Eisenmann
Zwischen zwei Welten: Forschungsfreiheit und regulatorische Anforderungen
Christoph Kämpf | Wissenschaftlicher Mitarbeiter | Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie, Leipzig
- Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Qualitätsmanagement: Die Arbeitsgruppe bewegt sich zwischen flexibler, experimenteller Forschung (v. a. Datenanalyse) und den rigiden Anforderungen eines QMS. Trotz anfänglicher Widerstände zeigt sich eine Schnittmenge: Reproduzierbarkeit, Wissensaustausch und hohe Ergebnisqualität sind in beiden Welten zentrale Ziele. Daraus entstehen gemeinsame Strukturen, ohne die wissenschaftliche Freiheit völlig einzuschränken.
- Entwicklung eines praktikablen QMS – von 13485 zurück auf 9001: Ursprünglich sollte ein vollständiges ISO-13485-QMS aufgebaut werden. Das erwies sich als zu umfangreich, zu teuer und gruppenintern konfliktbehaftet. Das Team entschied sich für einen pragmatischeren Weg: ISO 9001-Zertifizierung plus einzelne auditierte Prozesse nach IEC 62304 und ISO 14971 (Software-Lifecycle & Risikomanagement). Damit bleiben Vorteile wie Struktur, Planung, Dokumentation und Sichtbarkeit erhalten – ohne die volle regulatorische Last eines Medizinproduktherstellers tragen zu müssen.
- Nutzen und Hürden bei Research Software Development: Vorteil: Klare Prozesse (Planung, Architektur, Anforderungen, Tests) verbessern Qualität und erhöhen das mögliche Technology Readiness Level bei Förderanträgen. Das QMS stärkt langfristig die Industrienähe der Forschung. Hürden: Begrenzte Ressourcen, fehlende Akzeptanz bei Teilen des Teams, viele Einzelkämpfer-Projekte erschweren Reviews, Freigaben und Prozessverbesserungen. Der größte Mehrwert zeigt sich besonders im Planungsschritt, der in Forschungssoftware oft fehlt und durch das QMS erstmals systematisch durchgeführt wird.
QMS für Eigenherstellungen & Sonderanfertigungen am Universitätsklinikum Leipzig
Isabell Weber | Abteilungsleitung Qualitätsmanagement | Universitätsklinikum Leipzig AöR
- Qualitätsmanagement als zentrale Basis für Eigenherstellungen im Uniklinikum: Eigenherstellungen sind im Klinikalltag längst Realität: Entscheidungsunterstützungssysteme, Kombinationen von Medizin- und Nicht-Medizinprodukten, Hardware-Eigenentwicklungen. Vieles lief bisher „unter dem Radar“ – daher war ein zentrales, klinikweites QMS notwendig, um Struktur, Sicherheit und Verantwortlichkeiten zu schaffen. Das Ziel: den klinischen und forschenden Bereichen eine verbindliche, aber praktikable Grundlage an die Hand geben.
- Aufbauprozess: umfangreiche Abstimmung, klare Verantwortlichkeiten, starke Vorlagen: Der Weg dauerte rund zwei Jahre. Essenziell war die Einbindung von IT, Medizintechnik, Justizariat, Datenschutz, Informationssicherheit und externen Beratern des Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) der Universität Leipzig. Es wurden umfangreiche Templates, SOPs und Vorgabedokumente erstellt, die alle entwickelnden Bereiche nutzen können – inklusive begleitendem Support, da es für viele Neuland ist. Verantwortlichkeiten wurden klar benannt und die Rolle des Beauftragten der Obersten Leitung (BOL) wurde auf mehrere Fachbereiche aufgeteilt.
- Ablauf für neue Eigenherstellungen: zentral melden → bewerten → entwickeln → freigeben: Jede neue Eigenherstellungsinitiative wird zentral gemeldet, bewertet und in einem klinikinternen Lenkungskreis priorisiert. Erst nach Freigabe wird die technische Dokumentation aufgebaut. Zum Abschluss erfolgt eine zentrale Prüfung (Risikomanagement, Technik, IT). Nach der finalen Freigabe folgt die öffentliche Erklärung – danach beginnt der kontinuierliche Pflegeprozess des QMS.
Fazit: QMS als strategischer Enabler, nicht als Bremse verstehen
Session 5 hat gezeigt: Der Aufbau eines praxistauglichen QMS für Eigenherstellungen ist komplex – aber machbar und notwendig. Alle drei vorgestellten Ansätze beweisen: Ein schlankes, gut abgestimmtes QMS (ob ISO 9001 oder 13485) schafft Sicherheit, Nachweisbarkeit, Reproduzierbarkeit und handhabbare Prozesse, ohne Innovation völlig auszubremsen.
Der entscheidende Erfolgsfaktor ist jedoch nicht die Wahl des Standards, sondern der Kulturwandel: Qualitätsmanagement muss als Enabler verstanden werden, nicht als Bremse. Das gelingt nur durch:
Pragmatischen Start. QMS muss gelebt, benutzerfreundlich und gemeinsam entwickelt werden.
Frühe Einbindung der Entwickler. Erfolgreiche QMS entstehen im Dialog zwischen QM-Verantwortlichen und denjenigen, die täglich damit arbeiten müssen. Nur so gelingt es, trotz wachsender regulatorischer Komplexität Innovation im universitären Setting zu halten.
Tool-Unterstützung statt Papiertiger. Moderne Toolstacks (Jira, GitLab) machen Rückverfolgbarkeit, Versionierung und Dokumentation zu natürlichen Bestandteilen des Entwicklungsprozesses – statt sie als zusätzliche Dokumentationslast aufzubürden.
Realistische Risikosensibilisierung. „Wenn Ihre Großmutter auf dem Tisch liegen würde – würden Sie das Produkt so einsetzen?“ Diese Frage holt alle zurück zum Kern: Qualität schützt Menschen.
Die größere Perspektive: Angesichts steigender regulatorischer Komplexität droht Innovation aus Universitätskliniken zu verschwinden und zu spezialisierten Firmen zu wandern. Wenn wir patientennahe, klinisch getriebene Innovation erhalten wollen, müssen wir zeigen, dass universitäre Forschung und regulatorische Anforderungen vereinbar sind. Die drei vorgestellten Ansätze beweisen: Es geht – wenn QMS nicht als notwendiges Übel, sondern als strategischer Enabler verstanden wird.
Sie bauen ein QMS an Ihrer Institution auf oder haben Erfahrungen mit der Balance zwischen Forschungsfreiheit und regulatorischen Anforderungen? Teilen Sie Ihre Erkenntnisse im Netzwerk, um gemeinsam voneinander zu lernen und Best Practices zu etablieren.
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